Militärdoktrin

Eine Militärdoktrin ist in vielen Staaten die Bezeichnung für eine hochrangige militärische Richtlinie der Sicherheitspolitik. Sie stellt ein System der in einem Staat (einer Militärkoalition) für eine bestimmte Periode offiziell akzeptierten und verbindlichen prinzipiellen Ansichten dar, die den Charakter möglicher bewaffneter Konflikte sowie die Vorbereitung und Durchführung des bewaffneten äußeren Schutzes des Gemeinwesens beschreiben.

In der Militärdoktrin sind auf der Grundlage der Analyse der militärischen Gefahren und militärischen Bedrohungen für den Staat (für die Interessen der Verbündeten) die grundlegenden Ziele der Militärpolitik und der militär-ökonomischen Sicherstellung formuliert. Sie erfasst die Elemente der Landes- und Bündnisverteidigung aus sozial-politischer wie auch aus militärisch-technischer Sicht.[1]

Die Grundelemente der Militärdoktrin können je nach Staatsform durch die entsprechenden Staatsgewalten für eine bestimmte Periode festgelegt werden. In einzelnen Staaten erhält die Militärdoktrin verfassungsrechtliche und legislative Verbindlichkeit für die Vorbereitung der Streitkräfte und anderen Organen der Landesverteidigung, der Bevölkerung und des gesamten Landes auf bewaffnete Konflikte erhalten.

Begriffswandel und Abgrenzung

Der Begriff Doktrin in der Bedeutung ‚Lehrmeinung‘ wurde vor dem 16. Jahrhundert entlehnt aus lateinisch doctrina „Belehrung“, „Unterricht“, „Lehre“ (zu docere „lehren“, „unterrichten“).[2] Das Adjektiv doktrinär kann, semantisch abwertend, das starre Festhalten an einer Lehrmeinung ausdrücken.[3]

Doktrin bezeichnet ein System von Ansichten und Aussagen, oft mit dem Anspruch, allgemeine Gültigkeit zu besitzen.[4][5]

In seiner religionsphilosophischen Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft formulierte Immanuel Kant 1793 seinen Übergang von der Kritik zur Doktrin.

Im politischen Sprachgebrauch wird die Doktrin als politische Leitlinie der Regierung aufgefasst. Sie wird einseitig von dieser erklärt und stellt kein völkerrechtliches Dokument dar. Als Beispiele sind vor allem die außenpolitischen Doktrinen der US-amerikanischen Präsidenten und die auf der ideologischen Grundlage der Marxismus-Leninismus ausgearbeiteten Staatsdoktrinen in den ehemaligen realsozialistischen Staaten anzuführen.

Eine Doktrin zu den Grundfragen der staatlichen Militärpolitik erhält häufig die Bezeichnung Militärdoktrin. Die Bezeichnung gehört zu den Standardbegriffen in der Militärpolitik der (früheren) Sowjetunion und der Russischen Föderation.[6] Bis Anfang der 1980er Jahre war damit „ein System von grundlegenden Anschauungen zu Fragen der Kriegsvorbereitung und Kriegsführung des jeweiligen Staates (Koalition) für einen bestimmten Zeitraum (eine Periode)“ definiert.

Sie enthält Aussagen, die für die Streitkräfte eines Landes insgesamt und/oder für eine bestimmte Anzahl oder einzelne Teilstreitkräfte zutreffen. Darüber hinaus kann sie Wirkungen in den verbündeten Ländern entfalten.

Daher wirkt eine Militärdoktrin meist als konstituierendes Dokument. Die Details für die Umsetzung in der (militär-)politischen Praxis auszuarbeiten, obliegt meist Nachfolgedokumenten oder der Kompetenz der Organen der Staatsmacht.

Die NATO definiert eine militärische Doktrin als diejenigen „Grundprinzipien, die das Handeln von Streitkräften anleiten, um ihre Ziele zu erreichen. [Trotz ihres maßgeblichen Charakters] bedürfen sie einer [durchdachten] Anwendung“.[7]

Militärische Doktrinen wurden und werden im Laufe der historischen Entwicklung durch die Veränderungen im Militärwesen und in der Kriegsführung sowie in den (militär-)politischen Lagebedingungen angepasst.

Typischer Inhalt von Militärdoktrinen

Generell behandeln Militärdoktrinen einige grundsätzliche Fragen der Militärpolitik eines Staates (Staatenbündnisses). Praxisorientierte Lösungen ergeben sich dann aus einer Fülle von Unter- und Folgedokumenten.

Zu den typischen Elementen in einer Militärdoktrin gehören:

  • Allgemeine Bestimmungen: Definitionen, Rechtsgrundlagen, Verantwortlichkeiten, Geltungsbereich;
  • Beurteilung der militärischen Gefahren und militärischen Bedrohungen;
  • Ziele der nationalen Militärpolitik (Verteidigungspolitik) und Streitkräfteauftrag;
  • Aufgaben zur Abschreckung und Verhinderung militärischer Konflikte;
  • Aufgaben der nationalen Streitkräfte sowie der Teilstreitkräfte in Friedenszeit und in der Periode unmittelbar drohender Aggression;
  • Einsatz der Streitkräfte zur Abwehr einer Aggression;
  • Entwicklung der Militärorganisation des Staates (des Militärbündnisses);
  • Ausstattung der Streitkräfte mit Bewaffnung, Militär- und Spezialtechnik;
  • Sicherstellung der Streitkräfte mit materiellen Mitteln;
  • Militärökonomische Entwicklungsrichtungen;
  • Aufgaben der militärpolitischen und militärtechnischen Zusammenarbeit (national, international);
  • Allgemeine Ausführungsbestimmungen.
  • Ausrichtung der Verteidigungsforschung

Beispiele sicherheitspolitischer Dokumente

Sicherheitspolitische Dokumente in den USA

Sicherheitspolitische Dokumente in Russland

Strategie der nationalen Sicherheit

In der Russischen Föderation (RF) wurde seit Anfang der 1990er Jahre eine Vielzahl Konzeptionen zur Außen- und Sicherheitspolitik ausgearbeitet, die in den wissenschaftlichen und politischen Fachgremien sowie in der Presse öffentlich diskutiert wurden. Ein die sicherheitspolitischen Bereiche zusammenführendes, staatliches strategisches Konzept ist in Russland wohl erst im Jahr 1996/97 entstanden.[8]

Daneben wurden drei Dokumente Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation veröffentlicht, erstmals im Juni 2000, danach im Juli 2008[9] sowie jüngst im Dezember 2016.[10]

Die Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation (2015) hatte auch die präzisierten militärdoktrinären Leitlinien (vom Dezember 2014) aufgenommen.[11] Die deutschsprachigen Medien übernahmen damals im Wesentlichen nur die verkürzte Aussage einer britischen Nachrichtenagentur, dass Russland in dem neuen strategischen Dokument angeblich die USA, die NATO und die EU eine Bedrohung nenne.[12][13] Die Strategie-2015 benennt keine Staaten an sich als Feind oder Bedrohung Russlands. Jedoch werden aus dem Handeln nichtstaatlicher und staatlicher Akteure neue Bedrohungen für die nationale Sicherheit abgeleitet.[14]

Seit Juli 2021 bildet die Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation (2021)[15] den bisherigen Kulminationspunkt an Papieren, die wichtige langfristige nationale Interessen und strategische Prioritäten hinsichtlich der Sicherheit in der Innenpolitik, Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie in der Außen- und Sicherheitspolitik zusammenfassen.

Militärdoktrinen in Russland

Auf dem Gebiet der Militärpolitik wurden folgende offizielle Dokumente herausgegeben:

  • die Grundsätze der Militärdoktrin (Nov. 1993)[16] sowie
  • die Militärdoktrin der Russischen Föderation in drei Fassungen: der Entwurf vom Oktober 1999, die Militärdoktrin mit Erlass vom April 2000[17] und eine weitere vom Februar 2010[18] sowie
  • die Marinedoktrin der Russischen Föderation für den Zeitraum bis 2020 vom 27. Juli 2001 und
  • die Militärdoktrin der Russischen Föderation. Präzisierte Redaktion Dezember 2014.[19]
  • das Grundlagendokument über Russlands Politik zur nuklearen Abschreckung (ab 2020).[20] Dieses strategische Planungsdokument ergänzte stets die jeweils geltende Militärdoktrin der RF; es gelangt jedoch aktuell erstmals zur Veröffentlichung. Die wortgleichen Textpassagen aus der „Militärdoktrin der RF, Präzisierte Fassung“ (Dezember 2014) verweisen auf den Zusammenhang.

Der Militärdoktrin (12/2014) und dem Zerbrechen der Rüstungskontrollarchitektur folgte – international wie auch in russischen Medien und Zentren der strategischen Forschung – eine heftige Debatte von Experten und Politikwissenschaftlern über Veränderungen in der globalen und regionalen strategischen Stabilität.[21][22]

Schon vor Veröffentlichung des Grundlagendokuments 2020 warnten Experten immer wieder davor, dass mit militärtechnologischen Entwicklungen die Unterscheidbarkeit von konventionellen (nichtnuklearen) und nuklearen Waffen aufgehoben würde.[23] Der Diskurs zur nuklearen Abschreckungsstrategien wurde durch Aussagen aus dem Generalstab Russlands weiter belebt und hält weiter an.[24]

Siehe auch

Literatur

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Siehe Begriffserklärung Militärdoktrin. In: Autorenkollektiv der Militärakademie „Friedrich Engels“ der Nationalen Volksarmee u. a. (Hrsg.): Militärlexikon. 2. Auflage. Berlin 1973, S. 232 f.
  2. Siehe Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch. 23., erweiterte Auflage. Berlin/New York 1999, S. 187.
  3. Siehe Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Band 1, Mannheim 2006, ISBN 978-3-411-04014-8, S. 327.
  4. Siehe Begriffserklärung Doktrin. In: Manfred G. Schmidt: Wörterbuch zur Politik. 3., überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2010, ISBN 978-3-520-40403-9, S. 193.
  5. Siehe Begriffserklärung Doktrin. In: Klaus Schubert, Martina Klein: Das Politiklexikon. Begriffe, Fakten, Zusammenhänge. Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), 5., aktualisierte und erweiterte Auflage, Bonn 2011, ISBN 978-3-8389-0174-9, S. 82.
  6. Siehe Begriffserklärung Militärdoktrin (russisch Доктрина военная). In: Militärenzyklopädisches Wörterbuch. (russisch Военный Энциклопедический Словарь [Wojenny Enziklopeditscheskij Slowar]). Moskau 1986, S. 240.
  7. Siehe Definition Doktrin vom 1. März 1973. Zit.: “doctrine: Fundamental principles by which the military forces guide their actions in support of objectives. It is authoritative but requires judgement in application. 01 Mar 1973.” In: NATO GLOSSARY OF TERMS AND DEFINITIONS (ENGLISH AND FRENCH), S. 44; Zum Download verfügbar auf der Webseite der NSO: Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. Juni 2021 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/nso.nato.int; Definition vom 1. März 1973; Abruf am 24. September 2020.
  8. Siehe Konzeption der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation. Übersetzung aus dem Russischen von Peter Freitag und Harald Kießlich-Köcher. In: Die Streitkräfte der Russischen Föderation. Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Dresden, Heft 39, Dresden 1998, S. 15–44. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-325358[1]
  9. Übersetzung aus dem Russischen. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Heft 51.6/2000 und H. 92/2008.
  10. Original (russ.) in: kremlin.ru , abgerufen am 14. August 2019.
  11. Siehe Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation (2015). Bestätigt durch Erlass № 68 des Präsidenten der Russischen Föderation vom 31. Dezember 2015. Übersetzung aus dem Russischen von Rainer Böhme. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) i. L. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Dresden 2016, Sonderausgabe Juni, 54 S. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-78763[2] Russ. Original unter URL: kremlin.ru , abgerufen am 15. August 2019.
  12. Der Kreml (PDF; 3,3 MB), 31. Dezember 2015.
  13. Putin names United States among threats in new Russian security strategy (englisch), Reuters am 2. Januar 2016.
  14. Siehe Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation (2015), Ziff. 15 ff. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-78763[3]
  15. Strategie der nationalen Sicherheit der Russischen Föderation (vom 2. Juli 2021). Übersetzung aus dem Russischen von Rainer Böhme. In: Zur nationalen Sicherheitsstrategie Russlands (2021). DGKSP-Diskussionspapiere, Dresden 2021, September. ISSN 2627-3470. S. 15–58. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-757567 [4]
  16. Siehe Grundsätze der Militärdoktrin der Russischen Föderation (Darstellung). Übersetzung a. d. Russischen von Erich Hocke und Harald Kießlich-Köcher. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Dresden, Heft 11.1/1994; 27 S. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-350824[5]
  17. Siehe Militärdoktrin der Russischen Föderation. Übersetzungen aus dem Russischen von Rainer Böhme, Peter Freitag, Joachim Klopfer. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Heft 51.4, Dresden 2000, 48 S. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-351148[6]
  18. Siehe Militärdoktrin der Russischen Föderation. Übersetzung aus dem Russischen von Rainer Böhme, Egbert Lemcke, Frank Preiß. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Heft 99, Dresden 2010, 44 S. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-339726[7]
  19. Siehe Militärdoktrin der Russischen Föderation. Präzisierte Redaktion 12/2014. Übersetzungen aus dem Russischen von Rainer Böhme. In: Dresdener Studiengemeinschaft Sicherheitspolitik (DSS) e. V. (Hrsg.): DSS-Arbeitspapiere, Heft 113, Dresden 2015, 42 S. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-209286[8]
  20. Siehe Dokumentenvolltext: Erlass und Grundlagen …, dt. Übersetzung aus dem Russischen von Rainer Böhme. In: Russlands Politik zur nuklearen Abschreckung am Beginn der 2020er Jahre. DGKSP-Diskussionspapiere, Dresden 2020, Juni, S. 16–23. urn:nbn:de:bsz:14-qucosa2-710566[9]
  21. Siehe Autorenbeiträge in der Militärpresse zum Diskurs: J.Tschernenko, S. A. Karaganow, D. W. Suslow, A. Arbatow. Übers. a. d. Russ. von Rainer Böhme. In: Multilaterale strategische Stabilität zwischen Nuklearmächten – realistisch? Schriftenreihe DGKSP-Diskussionspapiere, Dresden 2019, November, ISSN 2627-3470, 40 S. URL: [10]
  22. Siehe Wolfgang Kubiczek: Strategische Stabilität ohne Rüstungskontrolle? In: Online-Beiträge, WeltTrends-Institut für Internationale Politik (IIP), Potsdam Mai 2020. Abruf 17. September 2020, 19 S. [11]
  23. Siehe Autorenbeitrag im Carnegie Moscow Newsletter Juni 2020: Dmitri Trenin: Stellungnahme zum offiziellen Papier Russlands zur nuklearen Abschreckung. Übers. a. d. Russ. von Rainer Böhme. In: Russlands Politik zur nuklearen Abschreckung am Beginn der 2020er Jahre. Schriftenreihe DGKSP-Diskussionspapiere, Dresden 2020, Juni, ISSN 2627-3470, S. 11–15. URL: [12]
  24. Siehe Autorenbeiträge in der Militärpresse zum Diskurs: A. E. Sterlin, A. Chrjapin, A. Timochin. Übers. a. d. Russ. von Rainer Böhme. In: Russlands Politik zur nuklearen Abschreckung im Diskurs 2020. Schriftenreihe DGKSP-Diskussionspapiere, Dresden 2020, August, ISSN 2627-3470, 37 S. URL: [13]